Erzählung Opa Hermann am 17.03.1999, ein Erlebnis aus seiner Zeit im Strafbatallion 999 gegen Kriegsende
Mein Opa wurde im dritten Reich als politischer Gefangener in das “Strafbataillon 999” zwangsrekrutiert und musste im Mittelmeer Selbstmordkommandos wie z.B. das Entfernen riesiger Seeminen aus vermintem Gebiet durchführen. Er war vor seiner Verhaftung eingebunden in den Offenbacher Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft. Geprägt und gezeichnet durch die Erlebnisse aus dieser Zeit, war er auch nach 1945 in kleinem Rahmen politisch tätig, als westdeutscher Kommunist und Mitglied der VVN, die von dem neu entstandenen westlich-demokratischen Staat argwöhnisch beäugt wurde (und wird).
H. ist auf einem Schiff, in Adria/Mittelmeer. Das Schiff fährt von einem griechischen Hafen mit Ziel Insel Samos. Das Schiff ist ein Frachter, begleitet von sechs Landungsbooten. Es ist frühmorgens, nebelig, man sieht nichts.
Plötzlich werden sie aus dem Nebel beschossen, man sieht den Feind nicht, hört nur Geschützdonner. Der Nebel wird gerade dünner, H. sieht vor sich drei englische Zerstörer/Schiffe im Nebel. Diese schießen sich ein. Der erste Schuss geht weit vor dem Frachter ins Wasser, der zweite ist hinter dem Frachter. Der dritte wieder davor, aber sehr nahe. Alle winken in ihrer Furcht mit weißen Tüchern. Eine kurze Pause. Das nächste Geschoss trifft das Schiff, ein Mast fällt um, erschlägt Menschen. Weitere Treffer folgen. Einige springen über Bord. Ein Leutnant zieht die Pistole und droht jeden, der über Bord springt, als Fahnenflüchtigen zu erschießen. Nach weiteren Treffern springen wieder Personen von Bord, schließlich auch der Leutnant selbst. H. beschließt auch zu springen. Er zieht die schweren Schuhe und seine Koppel aus, klettert auf die Reling, springt und landet im Wasser. Er beeilt sich vom Schiff wegzukommen.
Es gibt hinter ihm einen furchtbaren Knall, er dreht sich um, das Schiff ist in der Mitte katastrophal getroffen und zerbricht. Der vordere Teil versinkt praktisch sofort im Wasser und ist weg. Der hintere Teil geht an der Bruchstelle unter, dadurch gerät das hintere Ende weit aus dem Wasser heraus. H. sieht die Leute, die noch an Bord sind, Kopf an Kopf an der Reling hängen, sich festhaltend. Auch das hintere Teil versinkt. Von denen, die da noch an Bord waren, überlebt keiner, sie werden vom Sog in die Tiefe gerissen.
H. schwimmt im Wasser, die Überlebenden sind weit voneinander entfernt im Meer verteilt. In der Nähe Hs. ist ein weiterer Soldat, der zwar überlebt hat, dessen Schwimmweste aber kaputt gegangen ist. Beide versuchen zuerst einer fernen Insel näherzukommen und schwimmen länger in Richtung der Insel. Diese rückt aber einfach nicht näher. H. macht ein Abtriebsexperiment und stellt fest, dass sie eine sehr starke Strömung gegen sich haben. Sie werden die Insel nicht erreichen können. Stunden vergehen.
Nach einiger Zeit bekommt der Soldat mit defekter Schwimmweste Todesangst. Er jammert, dass nicht er, sondern H. eine gute Weste habe, und er sich viel mehr anstrengen müsse. H. bekommt Angst, zeigt dem anderen sein Messer und hält von da an immer mindestens 100 m Abstand.
Nach 5-6 Stunden im Oktoberwasser klappern H. die Zähne. Zu diesem Zeitpunkt kommt ein kleineres deutsches Marineboot und sammelt die Überlebenden ein. H. ist der Erste, der an Bord kommt. Er zieht seine nasse Kleidung aus, steht nackt da. In dem Moment werden die Retter angegriffen. Deutsche Stukas halten die Marineboote irrtümlich für Engländer (für die Angreifer vom selben Morgen) und greifen an. Die Marineboote müssen zurückschießen, haben aber keine ausreichende Bewaffnung und sind praktisch wehrlos. Es passiert nichts Tragisches, aber H. vermisst danach seine Schwimmweste, jemand ohne Schwimmweste hat sie im Durcheinander an sich genommen.
H. hört, dass das Marineboot den Angriff am Morgen mitverfolgt hat, und sich in dieser Zeit hinter einer Insel versteckt hatte, weil chancenlos gegen die großen englischen Schiffe.
Das halbe Bataillon von H. ist nach diesem Angriff tot. Das Marineboot fährt zu einer weiteren Insel (Lesbos?), von dort kommt H. schließlich nach Samos.
Nach Kriegsende warten die deutschen Soldaten darauf, von den Engländern „eingenommen” zu werden. Eines Tages kommt ein Boot mit 12 englischen Offizieren, die alle auf der Insel zu Kriegsgefangenen erklären. Die deutschen Soldaten sind zu diesem Zeitpunkt ausgehungert weil seit Wochen ohne Verpflegungsnachschub. Dies ist einige Tage (8 Tage?) nach Kriegsende.
Aufgezeichnet 17.03.1999 vom Enkel, der, noch in jungen Jahren, beim Hören entsetzt von dieser Begebenheit war.
Alle Rechte an diesem Text liegen beim Aufzeichner.
Referenzen
- Heute 100. Geburtstag im Gretel-Egner-Haus : Hermann Hagendorn - ein Stück Offenbacher Geschichte, Artikel der Offenbacher Post
- Ein Stolperstein für Karl Löffert, Anneli Hüpenbecker/NaturFreunde Offenbach, 2007. Eine Dokumentation zum Widerstand im “3. Reich” in Offenbach, mit dem Fokus auf Karl Löffert. Karl Löffert und Herrmann Hagendorn kannten sich gut, waren beide Mitglied bei den “Naturfreunden”.
- Aschendorfermoor, https://de.wikipedia.org/wiki/Emslandlager_Aschendorfermoor, Teil der KZ- und Gefangenenlager-Gruppe Emslandlager (https://de.wikipedia.org/wiki/Emslandlager). Einen Teil seiner Haft verbrachte mein Opa hier als “politischer Häftling”, bevor er zum Strafbataillon 999 rekrutiert wurde.
- Strafbataillon 999, wohl offiziell Strafdivision 999 genannt: https://de.wikipedia.org/wiki/Strafdivision_999
- Seeminen https://de.wikipedia.org/wiki/Seemine